Ich sehe nichts, wenn Du nicht siehst

Überlegungen zu SEEN UNSEEN SCENE (multimediale Installation, Muzak & Riha 2016)
Tom Waibel, in: Jan-Christoph Tonigs (Hg.), Muzak & Riha. SEEN UNSEEN SCENE, Rheine: Verlag Bentlage 2018.

Die unvorhersehbaren Risiken dieser Arbeit beginnen mit einem partizipativen Prozess, in dem sich Muzak & Riha entschließen, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die abseits der gesicherten Bereiche des Sichtbaren leben, um gemeinsam das Andere der Sichtbarkeit, das Unsichtbare auszuloten. In Auseinandersetzung mit einem Soundtrack, der hörspielerischen Tonspur eines noch nicht sichtbaren Filmes, entwerfen blinde TeilnehmerInnen über 100 Bilder, die als Ganzes und in Teilen, als Texte und Texturen, als Motive und Motivationen zu einem 22 Minuten langen Tast-, Druck-, und Graphikfilm montiert werden, den Muzak & Riha so charakterisieren: „Im Film geht es um Menschen, die nicht sehen können. Aber nicht, weil sie blind sind, sondern weil sie im Moment keine andere Möglichkeiten haben, als sich anderen anzuvertrauen.“ Muzak & Riha sorgen dafür, dass dieses Anvertrauen über den Film hinauswuchert, und setzen einen Prozess in Gang, in dem die blinden BilderproduzentInnen gemeinsam mit sehenden SchülerInnen sinnlich haptische Antworten auf die filmisch visuellen Sehnsuchtsorte entwickeln. Die daraus entstehenden – scheinbar zahllosen – kartonschachtelgroßen „Fühlmaschinen“ kombinieren Muzak & Riha mit dem – fühlbar endlosen –Tast-, und Graphikfilm zu einer multimedialen Installation, angesichts derer die ZuseherInnen selbst zu TeilnehmerInnen werden, die, konfrontiert mit der Abstraktion von Dunkelheit und Stille, sich ihrer eigenen Zufluchtnahme an den sicht- und hörbaren Rändern dieser gesehenen und zugleich ungesehenen Szenerie gegenwärtig werden.

Wie fühlt sich Sehen an? Wann spür‘ ich deinen Blick? Was sehe ich mit geschlossenen Augen?
Was spüre ich mit geballter Faust? Ist die Synästhesie eine queere Potentialität meiner Sinne? Wir haben uns daran gewohnt, das Sichtbare für das Begreifliche zu halten, obwohl wir den Blick nicht fassen können. Wann hat das Auge die Herrschaft über die Hand erlangt? Warum verstehen sich Auge und Geist besser als Hand und Verstand? Die Attraktion von SEEN UNSEEN SCENE besteht darin, etwas zu untersuchen, was man gemeinhin für bekannt hält, und das Ergebnis dieser Untersuchung ist alles andere als ein Gemeinplatz: Es gibt etwas Unsichtbares, das unserer Welt zugehört, ihr Struktur und Relief gibt; und dieses Unsichtbare ist nicht einfach etwas, das wir noch nicht gesehen haben, sondern etwas, das niemals sichtbar werden kann, weil sich das Sehen selbst darauf begründet. Die blinden Flecken unserer Wahrnehmung sind das Ergebnis der von uns eingenommenen Perspektiven, aber wenn wir keine Perspektive einnähmen, müssten wir gänzlich auf Wahrnehmung verzichten. Andererseits ist es uns aus offensichtlichen Gründen ebenso unmöglich alle Perspektiven zugleich einzunehmen. Die gesehene Szene setzt die ungesehene unmittelbar voraus, mehr noch: sie entspringt aus ihr, und der Grund dafür ist weder zufällig noch banal. Maurice Merleau-Ponty formuliert ihn so: „Der Mensch steht der Welt nicht gegenüber, sondern ist Teil des Lebens, in dem die Strukturen, der Sinn, das Sichtbarwerden aller Dinge gründen.“ SEEN UNSEEN SCENE weiß um diesen Sachverhalt und zieht eine ästhetische Konsequenz daraus: Wenn objektive Rationalität gelehrt hat, auf Abstand zu den Dingen zu gehen, damit wir von ihnen nicht getäuscht werden, so fordert Muzak & Rihas Installation dazu heraus, uns mit allen Sinnen so nah wie möglich auf die Dinge einzulassen, um zumindest eine Ahnung von ihnen zu bekommen.